"Du Hättest Gehen Sollen" von Daniel Kehlmann




'Du Hättest Gehen Sollen' von Daniel Kehlmann erschien 2016 im Rowohltverlag und ist ein Kaleidoskop an feinsten Horror-Topoi.


Ein abgelegenes Haus in den Bergen mit einer verborgenen Vorgeschichte, ein Schriftsteller, der damit kämpft, an seinen Erfolg anschließen zu können, lieber aber etwas anderes schreiben würde, eine unglückliche Ehe mit emotional vernachlässigtem Kind, unnahbare Dorfbewohner, die durch kryptische Andeutungen versuchen, vor etwas zu warnen und der Spuk kann - im wahrsten Sinne des Wortes - beginnen.

Die Quintessenz dieser 'Spukgeschichte' ist, was es heißt im eigenen Bewusstsein gefangen zu sein.

Was von Anfang an auffällt, ist das absolut szenische Erzählen. Die Erzählabschnitte sind konstruiert wie filmische Szenen, sodass man sich, ähnlich einen Horrorfim schauend, visuell gebannt findet.
Wir folgen der Perspektive des Ich-Erzählers, der einen ungemein unzuverlässigen Eindruck macht. Nicht nur, dass es einen nahtlosen Übergang in der Erzählung zwischen seinen Gedanken zur realen Welt und zu dem Drehbuch, an dem er zeitgleich schreibt, gibt.
Er scheint auch Probleme mit dem Fokussieren auf seine Umwelt zu haben. Einem Kameraschwenken ähnlich, folgen wir seiner Konzentration auf ein Geräusch im Haus weiter nach innen gerichtet auf sein Ohrenrauschen, dann nach draußen durch das geschlossene Fenster zu seiner Familie und zurück in den geschlossenen Raum auf sein Spiegelbild.

Der langsam in sich übergehende Wechsel von zeitraffender und zeitdehneder Erzählung verschafft den Eindruck, der dem des Protagonisten ähnelt; nämlich, dass man den Ereignissen nicht ganz folgen kann, obwohl sich alles chronologisch abspielt. Irgendetwas ist verschoben in der Wahrnehmung und hinterlässt einen eigenartigen Eindruck.

Dieser wird noch verstärkt durch die Eigenheiten der Dorfbewohner. Schon allein durch den Dialekt kaum zu verstehen, scheint der Wille zur Kommunikation nicht vorhanden zu sein. Seltsam leblos und mechanisch folgen ihre Bewegungen und Aussagen aufeinander, die den Protagonisten und auch den Leser verwirrt zurücklassen.

Kehlmann spielt von Anfang an mit Andeutungen seiner typischen Motive des magischen Realismus, die sich durchweg in seinen Werken wiederfinden.
Die Einführung in die Geschichte im Motiv des down-the-rabbit-hole durch die Serpentinenstraße und die Angst vor Spiegelbildern ('Der Fernste Ort'), sowie auch das labyrinthartige Verirren in falsche Zimmer und das andauernde Gehen, ohne anzukommen ('Ich und Kaminski', 'Die Vermessung der Welt', 'F'), sind sowohl die deutlichsten, als auch die häufigsten dieser Motive, die perfekt in das horrorgeschichtentypische Heraufbeschwören von Unwohlsein bis hin zur Angst hineinspielen.

Zu der allgegenwärtigen Verwirrung kommt die bloße Erwähnung der beginnenden (Alp-)träume, ohne weiter auf sie einzugehen und das immer merkwürdiger werdende Verhalten der Tochter, was die Spannung ins Unermessliche treibt.
Im Laufe der Erzählung wird dann immer deutlicher. dass all diese Motive die Ungewissheit und das Misstrauen gegenüber der eigenen Erinnerungskraft und Wahrnehmung symbolisieren.
Der oft nahtlose Übergang von Wahrnehmung und Realität, träumen und wach sein, spiegelt in Kehlmanns Werken häufig die Identitätssuche oder gar Identitätslosigkeit der Charaktere dar.

Ich musste das nur 80 Seiten lange Buch in zwei Etappen lesen, da es mir beim ersten Lesen zu spät und dunkel um mich wurde und ich nicht aus Versehen mein Spiegelbild oder ein Gemälde an der Wand verlieren wollte.
Meisterhaft gelang es Kehlmann nach dem Regelwerk der Gruselliteratur und sogar des Horrorfims ein wahrhaft fantastisches Werk zu kreieren.
Es hat die für ihn typische Anlehnung an Dostojewski und Kafka und erinnert an den Film 'The Others' aus dem Jahr 2001.

Das Einzige, was meiner Meinung nach eine nicht zu erwartende Wirkung hat, ist die Kommunikation zwischen den Eheleuten, die zu übertrieben dargestellt ist.
Der sonst so kehlmanntypische Dialog, der aus Sarkasmus, Intelligenz und Witz besteht, wirkt hier eher platt.
Dabei ist ist Art der Konversation bereits bekannt und wohl am Besten umgesetzt in den Treffen zwischen Humbolt und Gauß ('Die Vermessung der Welt').
Nur wirken die ständigen Widerworte hier leider erzwungen.

Das ist aber nur ein kleines Manko in einem sonst rundum gelungenen Werk, das einem schlaflose Nächte bereiten wird.



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