"Die Ermordung des Commendatore I. Eine Idee erscheint" von Haruki Murakami




'Die Ermordung des Commendatore. Eine Idee erscheint' von Haruki Murakami erschien im Januar 2018 bei DuMont Buchverlag.
Es ist der erste von zwei Teilen, in denen die Geschichte von einem namenlosen Protagonisten und einem Porträt der Ermordung des Commendatore erzählt wird.

Der Murakami-typische männliche Protagonist ist wie üblich in einem Alter zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig (in dem Fall 36), führt anfangs ein geregeltes Leben, in dem er von zuhause aus in einem kreativen Job, der ihn aber nicht ausfüllt (hier als Porträtmaler) arbeitet und die Hausarbeit erledigt, während seine erfolgreiche Frau außer Haus in einem Büro arbeitet.
Dann verlässt ihn seine Frau - aus seiner Sicht - plötzlich. Dies ist ein einschneidenedes Erlebnis, das den through-the-rabbit-hole Moment im Leben des Protagonisten darstellt, nach dem nichts mehr so ist wie vorher und mysteriöse Ereignisse ihn für sich einnehmen.
Eine Verschiebung der Realität findet statt, die ihn an der eigenen Wahrnehmung zweifeln lässt.

Nach einer rastlosen Reise in den Norden Japans, findet der Protagonist Unterschlupf in dem Haus eines Freundes - beziehungsweise dessen Vaters, einem berühmten Maler - in den Bergen.
Das Motiv ähnelt stark dem aus 'Wilde Schafsjagd', in welchem der Protagonist ebenfalls temporär in das Haus eines Freundes in den Bergen einzieht und die Schatten der Vergangenheit, die sich noch darin aufhalten, ihn in ihrem Bann ziehen.

Die Geschichte nimmt eine seltsame Wendung, als der Protagonist zufällig ein Gemälde, vermutlich vom Maler Tomohiko Amada dort auf dem Dachboden vor der Öffentlichkeit versteckt, findet.
Dieses Motiv ist uns natürlich aus 'Das Bildnis des Dorian Gray' von Oscar Wilde bekannt und lässt darauf schließen, dass es sich um mehr als ein einfaches Gemälde handelt.
Der Titel dieses Gemäldes ist auch der Namensgeber der Titels des Buchs, nämlich: Die Ermordung des Commendatore.
Es lässt den Protagonisten keine Ruhe mehr. Er bezieht das Dargestellte auf sein eigenes Leben, sieht in der Ermordung den Moment des Schocks, in dem seine Frau ihn verließ.

Während er in seiner neuen geborgten Unterkunft in den Tag hinein lebt, nimmt einer seiner Nachbarn, der wohlhabende Herr Wataru Menshiki, Kontakt zu ihm auf.
Er gibt ein Porträt für eine horrende Summe in Auftrag, während deren Zeit des Modell sitzens sich eine Art Freundschaft zwischen ihnen entwickelt.
Soweit scheint nichts über Menshiki in der Öffentlichkeit bekannt zu sein und auch selbst übt er sich im Schweigen über seine Person, was nur zu der mysteriösen Aura beiträgt, die ihn umgibt.
Des Weiteren bedeutet sein Name die Vermeidung von Farbe, was einen intertextuellen Verweis auf den Herrn Tazaki aus 'Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki' darstellt.
Ob sie sich auch in ihrem Schicksal ähneln, bleibt in Teil zwei 'Eine Metapher wandelt sich' abzuwarten.
Äußerlich markant charakterisiert, hat er schneeweißes Haar, genau wie Miu in 'Sputnik Sweetheart', der nach einem schockierenden Erlebnis die Haare permanent weißen.
Der Erzähler selbst verweist darauf, dass das Phänomen erstmals in einer von Rampo Edagawas Geschichten auftritt. Da dieser als Begründer der japanischen Kriminalliteratur gilt, heißt es abzuwarten, ob dies ein Hinweis auf Menshikis Charakter ist.Jedenfalls scheint alles, was er sagt, verdächtig.
Nichtsdestotrotz vereinnahmt er den Protagonisten immer mehr für seine Zwecke, von denen noch nicht ganz klar ist, wie moralisch diese sind.
Der Protagonist empfindet sich selbst in Bezug zu Menshiki sogar nur als seinen side kick, einen Watson zum Sherlock.

Das ist im Groben die Handlung, die in Murakamis typischem Stil erzählt wird.
Es ist eine anachronistische Erzählweise mit einer Voraussicht zu Beginn, die das Interesse von Anfang an weckt, gefolgt von einem reflektierenden Erzählen und durchzogen von wiederholten Rückblicken, die dem Verständnis des Charakters des Protagonisten dienen.

Murakami hat die Gabe, komplexe Gefühle und Gefühlslagen in einzelnen Sätzen einzufangen. So überträgt sich die Atmosphäre, in der der Protagonist nach einem Regenschauer im vormittäglichen Sonnenschein Kaffee trinkt, dabei seinen Gedanken nachhängt und aus dem Fenster heraus die Natur beobachtet, direkt auf den Leser und umhüllt ihn.

In diesem, wie in all seinen Werken, geht es um die Einsamkeit, die Sehnsucht und zwischenmenschlichen Beziehungen, welche, je nachdem, flüchtig, temporär, neu, sanft, abrupt zu Ende gehend, bedeutend, unbedeutend und vieles mehr sein können.
Es geht um die persönliche Entwicklung eines Menschen. Ob er von einem Ziel, also der Zukunft angetrieben wird oder aber von einem Erlebnis, das einen unwiderruflich verändert oder sogar lähmt, also der Vergangenheit. In diesem Sinne ist die Charakterentwicklung des Protagonisten eine absolute Anlehnung an Kafkas 'Die Verwandlung'.
Es geht darum, ob man das Verborgene um jeden Preis aufdecken oder lieber keine schlafenden Geister wecken sollte (pun intended).

Die gesamte Erzählung ist eine Allegorie auf das Leben des Protagonisten.
Er zieht in ein leerstehendes Haus, das zuvor von einem Demenzkranken bewohnt war.
Er hat also diese neue leere Hülle, die er ja auch selbst verkörpert, nachdem seine Frau ihn verlassen hat und kann sie mit neuem Leben, neuen Ideen und einem neuen Ich füllen.
Er erlangt einen neuen Geisteszustand, findet einen neuen Malstil und entwickelt sich als Mensch weiter.
Die Seite des Berges, welche das Haus beherbergt, ist die 'Schauerseite', welche meist Regen und wenig Sonne abbekommt und die andere Seite ist wortwörtlich die Sonnenseite. Das allein gibt schon Aufschluss genug über die mentale und symbolische Verfassung des Protagonisten.

Im Laufe der Geschichte findet er eine zugedeckte, aber leere Grube (zusammen mit Menschiki), die sein Unterbewusstsein darstellt und dazu dient, Vergangenes hervorzuholen auf aufzuklären. Danach kann er auch seinen neuen Malstil finden, der sich größtenteils daraus ergibt, Unterdrücktes zuzulassen. 
Hinzu kommt das Bild der Ermordung des Commendatore, welches - symbolisch - den genauen Moment einfängt, in dem der Protagonist von seiner Frau verlassen wird. Mit dem Schwert erstochen und von erstaunten, überraschten Gesichtern umgeben. Genau wie die Grube findet er das Bild versteckt, was einem so vorkommt wie zum Beispiel eine Idee!, die er erstmals in seinem Geist entdeckt, beziehungsweise wahrnimmt.
Die Erscheinung der Idee in Gestalt des Commendatore erinnert stark an die Little People aus '1Q84'. Auch diese waren anfangs nur eine Idee und wurden auf einmal real.
Oder ist es andersherum, sodass der Commendatore (die reale Person, die im Bild erstochen wird) erst als er starb zur Idee wurde? Dabei kommt die Frage auf, ob dies auch mit dem Protagonisten von Hard-Boiled Wonderland und Das Ende der Welt geschah? 

So perfekt Murakami-isch das Buch auch ist, gibt es einen großen und zwei kleine Makel.
Der große zuerst: Wer Murakamis Erzählstil kennt, weiß die ausführlichen Beschreibungen zu schätzen, in denen der Protagonist seine Mahlzeiten zubereitet. Bis zur Hälfte des Buchs blieb das gänzlich aus, es wurde nicht einmal erwähnt, was er sich zubereitet, geschweige denn, wie. Erst bei fortgeschrittener Handlung wird darüber berichtet. Doch längst nicht so wünschenswert wie zum Beispiel in 'Mister Aufziehvogel'.

Die zwei kleineren Makel betreffen zum einen die unnötig explizierten Sex-Szenen und zum anderen Murakamis Obsession mit minderjährigen Mädchen und ihren Brüsten, die ich wohl nie verstehen werde. In welchem Universum würde ein 13-jähriges Mädchen einem erwachsenen Mann, der auch noch ihr Lehrer ist, gegenüber ihre Brüste in dieser Ausführlichkeit diskutieren. Wie auch schon in 'Hard-Boiled Wonderland und Das Ende der Welt', 'Mister Aufziehvogel' und '1Q84' schaudert es einen bei der sexuellen Wirkung, die die jungen Mädchen auf die Protagonisten zu haben scheinen, ganz im Sinne von 'Lolita'.


Zum Schluss noch ein paar 'technische' Anmerkungen: Die Übersetzung ist wie bei allen neuer verlegten seiner Bücher von Ursula Gräfe vorgenommen und wie immer brillant gemeistert worden. In social media Netzwerken wurden ja schon oft die englischen Übersetzungen kritisiert und deswegen bin ich um so glücklicher, dass die deutschen Übersetzungen so gelungen sind, sie die Sprache so magisch wiedergeben und so ein einmaliges Leseerlebnis darbieten.
Des Weiteren würde ich gern das Coverdesign anerkennen. Die Graphik ist wunderbar passend. Sowohl in der Motiv- als auch in der Farbwahl. Und als Schutzumschlag eine dicke Folie zu wählen ist für mich als In-der-Badewanne-Leser vorausschauend und nutzerfreundlich.

Ich kann das Buch nur empfehlen und es kaum abwarten, bis im April 2018 der zweite Teil: 'Die Ermordung des Commendatore. Eine Metapher wandelt sich' erscheint.








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